Alles ist Markt!

Verbindungen zum Austausch von Handelsgütern und Wissen gab es ja schon sehr früh, auch zwischen Angehörigen unterschiedlicher Sprachen, Kulturen oder Ethnien. Das hat Herrschaftsbereiche und Erdteile verbunden. Herodot hat davon schon um 430 v. Chr. berichtet. Der erzählt noch von einer deutlich früheren Zeit, die wir heute als Bronzezeit kennen, also ungefähr vom Zeitraum 2.200 bis 800 v. Chr. Aus diesem sehr frühen Austausch von Gütern und Wissen zum gegenseitigen Vorteil sind im Laufe der Geschichte relativ feste Handelsbeziehungen entstanden. Die Seidenstraße ist ein Beispiel dafür, das ist ja ein großes Netz von ursprünglichen Karawanenrouten, die auch schon damals den Mittelmeerraum mit Asien verbunden haben.

Auch mittelalterliche Händler sind quer durch Europa gereist, natürlich um von Preisunterschieden zu profitieren, die sich aus dem Kauf und Verkauf von Waren ergeben haben. Aber die Anzahl der Transaktionen, die kulturelle, sprachliche, zeitliche, technische und auch rechtliche Differenzen der heutigen Nationalstaaten überwinden, war in der Geschichte nie so groß wie heute. Auch die Seidenstraße wird gerade modernisiert und bald noch viel leistungsfähiger sein.

Wenn Menschen heute Gewinnstreben mit modernen Technologien kombinieren ist für viele fast die ganze Welt der Markt. Dafür müssen sie nicht mehr monatelang unter Lebensgefahr durchs Ungewisse reisen. Die Welt ist der Markt sowohl für die Beschaffung von Ressourcen als auch für den Verkauf von Leistungen. Die Welt ist auch die Produktionsstätte, denn die findet ja auch nicht nur an einem Ort statt, sondern oft standortverteilt.

Im Laufe der Geschichte haben so gesehen Differenzen also immer weiter an Relevanz verloren

Aber noch ist es nicht so weit, dass sie alle irrelevant wären. Sie zu reduzieren gehört ja gerade zu den selbstgewählten Aufgaben der Wirtschaftenden, wenn sie auf der Suche nach Wettbewerbs- und Produktivitätschancen sind. Diese Suche ist immer voraussetzungsvoll, denn die Repräsentanten des politischen Systems entwerfen dafür Regeln, vor deren Hintergrund die auf dem Spielfeld der Marktwirtschaft Handelnden möglichst effiziente Spielzüge vollziehen wollen und sollen. Wo das gelingt, können wir ökonomisch von vergleichsweise geringeren Reibungsverlusten arbeitsteiligen Wirtschaftens sprechen, von geringeren Transaktionskosten und mehr Chancen. Geringere Kosten und mehr Chancen, das interessiert die Unternehmer. Wer das kann, ist ökonomisch schon fast erfolgreich.

Aber die Führungskräfte, die danach streben, stellen in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft fest, dass sie Verhältnisse nicht mehr so recht einordnen können. So vieles ist Interpretation und davon gibt es natürlich viele Varianten. Nicht nur das Risiko, auch die Ungewissheit steigt, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen. Wie gehen Unternehmer oder Führungskräfte damit sinnvoll um? Wie kann man noch verstehen, was passiert und ökonomisch zum eigenen oder gemeinsamen Vorteil passieren könnte?

Es müssen Optionen oder Entscheidungsalternativen da sein, sonst gibt es keine Entscheidung. Aber immer mehr Entscheidungssituationen sind längst zu schwerwiegenden Entscheidungsproblemen geworden, weil die Qualität der Zielerreichung für jede Alternative anders ist und die sich, im Entscheidungsmoment, sofort gegenseitig ausschließen. Wer unter solchen Bedingungen handeln soll fragt sich: Wie?

Welche Entscheidungen sind also überlegen, wenn Einflussfaktoren und deren Zusammenwirken unklar sind, auch im Rückblick?

Viele beschreiben das als schlecht strukturierte Entscheidungssituation und erleben das auch so in ihrer betrieblichen Realität.

Unternehmer und Manager wollen Vermögenswerte schützen, bewahren und aufbauen, aber streng genommen kann jede Entscheidung, die Ressourcen bindet, in so einer Welt vollkommen unerkannt in eine Krise führen. Ungewissheit bedeutet, es könnte da draußen Handlungsalternativen geben, die dem Entscheider unbekannt sind. Und damit gibt es auch unbekannte Entscheidungsfolgen und Eintrittswahrscheinlichkeiten unbestimmter Ereignisse. Im glücklichen und wünschenswerten Fall führt das trotzdem zu einem unternehmerischen Erfolg, im anderen Fall vielleicht in eine Krise.

Hinzu kommt, dass sich das Wissen immer weiter mehrt, funktionale Differenzierung schreitet voran; zugleich sind individuell unsere Informationsverarbeitungskapazitäten begrenzt, wie unsere Rationalität. Wir schielen in Richtung Digitalisierung und arbeiten daran, das mit IT zu beheben. Das macht uns leistungsfähiger. Wir reden auch viel miteinander, aber verstehen trotzdem an immer mehr Stellen weniger vom Tätigkeitsfeld der anderen.

Und dann meint Daniel Kahneman auch noch, es läge in der menschlichen Natur, das eigene Wissen über die Welt zu überschätzen, und das Konzept des Zufalls zu unterschätzen. Und als wäre das alles nicht schon längst genug, soll unter hoher Ungewissheit in der Wirtschaft auch noch zügig entschieden werden.

Die Markteintrittsbarrieren sind zu sehr vielen Themen drastisch gesunken, u.a. weil Informationsbeschaffung oft leichter fällt. Das erhöht die Anzahl der Marktteilnehmer; die Anzahl der Möglichkeiten wirtschaftlich relevante Beziehungen einzugehen, und es verschärft den Wettbewerb. Die Autoren Bygrave und Zacharakis sprechen ja, wenn sowas passiert, von einer „Entrepreneurial Revolution“ und auch da sind wir natürlich mittendrin.

Wenn Unternehmen Beziehungen zu Ressourcenbesitzern eingehen, sind das im ökonomischen Sinne Formen der Kooperation. Die Ergebnisse werden dabei von Kriterien bestimmt, die einerseits den „Handelnden“ gleichsam innewohnen, sie ausmachen. Zugleich sind diese Handlenden in eine „Welt“ eingebettet, in der das Ganze geschieht. Dazu gehören die Unternehmen mit ihren eher stabilen formalen und informalen Regeln. Dazu gehören auch Marktgepflogenheiten, oder staatliche Rahmenordnungen.

Für die Unternehmerin oder den Unternehmer bedeutet das, nicht nur an die Leistungen oder Produkte zu denken, sondern auch an die Art und Weise der Gestaltung der Organisation, mit der und über die das Ganze durchgeführt werden soll. Mit Organisation meine ich also nicht nur das Unternehmen. Ich meine Organisation auch prozesshaft. Eine wichtige Frage lautet darum: Welche Form der Organisation unserer ökonomischen Aktivität ist in so einer Welt überlegen?

Na ja, und das liefert eine Menge Diskussionsstoff für die Frage, wie Unternehmensführung eigentlich stattfinden kann und soll. Und welche Anforderungen richtet das an das Managementvermögen, an die Fähigkeit der Managers? Das lässt sich wohl nur für den konkreten Einzelfall besprechen.

Trotzdem kann die positive Analyse -der Status quo- vielleicht so ausfallen

Es bieten sich unternehmerisch viele Gelegenheiten und Bedrohungen und darum ist Vorsicht bei langfristiger Ressourcenbindung geboten. Wir beobachten ja ein immer schnelleres Auf- und Abtauchen vertraglicher Arrangements. Im Binnenverhältnis der Unternehmen sind das z.B. Arbeitsverträge, zwischen den Unternehmen eben Lieferbeziehungen und Verträge verschiedenster Art. Wenn wir in die Welt blicken, erleben wir dieses Auf- und Abtauchen, die Flüchtigkeit, mit der das an vielen Stellen immer mehr geschieht, als Beschleunigungseffekte. Wenn ich mit erfahrenen Führungskräften spreche, dann sagen die auffallend häufig, vieles ändere sich schneller als früher. Man könnte es ein bisschen auf die Spitze treiben und sagen: Es gibt offenbar sowas wie einen Temporalisierungszwang, dem die Organisationen der Wirtschaft ausgesetzt sind. Machen sie nicht mit, geraten sie ins Abseits. Das wäre also keine Option.

Die Management-Anforderung, die sich daraus ergibt, lautet Anpassungseffizienz oder adaptive Effizienz herzustellen und zu erhalten. Das heißt, Unternehmen, die das Vermögen ausbilden und erhalten, schnell ihre Form zu verändern, z.B. über die Anzahl und Qualität von Verträgen intern und externen, sind im Wettbewerb leistungsfähiger, denn die können sich an veränderte Bedingungen, die sie nicht -oder nicht mehr- selbst beeinflussen können, schneller anpassen. Der Imperativ könnte lauten: Vermeide Pfadabhängigkeiten! Oder, Heinz von Foerster möge es verzeihen: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“

Demgegenüber muss man allerdings sehen: Wer das tut, wird auf Märkten womöglich nicht als besonderer Player für Konsumenten erkennbar. Vielleicht sind die Produkte letztlich nicht gut genug, das Unternehmen wirkt flatterhaft und unentschlossen. Man wagt die Investition nicht. Die Leute mit Verantwortung wollen sich nicht festlegen. So könnte das wirken. Vermutlich sind solche Unternehmen eher im Bereich der Commodities unterwegs, ein bisschen „stuck in the middle“. Dann laufen sie Gefahr, alles und nichts zu sein. Natürlich ist aber auch das legitim. Aber es ist vermutlich überwiegend da so, wo es nicht möglich erscheint, die langfristige Widmung endlicher Ressourcen mit Flexibilität zu kombinieren.

Wenn das aber gelingt ist das natürlich großartig. Wahrscheinlich kann man in der Kombination von Massenproduktion und Individualisierung ein gelungenes Beispiel dafür sehen. Der VW Golf ist ein Massenprodukt und das ist eine folgenreiche Festlegung, eine spezifische Investition des Konzerns. Das bindet Ressourcen; schafft Pfadabhängigkeiten. Allerdings ist er in vermutlich hunderten, vielleicht auch tausenden Ausstattungsvarianten zu haben. So kann er zugleich auf individuelle Kundenwünsche getrimmt werden. Das Massenprodukt wird zugleich individualisiert. Ganz offenkundig ist dieses Konzept sehr erfolgreich. Die Kombination von Massenproduktion und Individualisierung finden wir ja auch beim Smartphone. Millionen Apps und noch viel mehr Konfigurationsmöglichkeiten erlauben weitreichende Individualisierung der Gutseigenschaften. Das Smartphone finde ich als Beispiel noch interessanter, weil da die Individualisierung der Gutseigenschaften gar nicht abgeschlossen werden muss, wenn der Kunde das nicht will. Jedenfalls nicht über den gesamten Nutzungszeitraum des Gerätes. Im Extrem könnten die Gutseigenschaften eines Smartphones mit Apps so instabil sein, wie die Präferenzordnungen der Konsumenten. Wenn die sich für zwei oder mehr Jahre nicht festzulegen brauchen, fällt der Konsum natürlich leichter. Das ist aus meiner Sicht der wesentliche Unterschied zum VW Golf.

Produktivitäts- und Wettbewerbschancen müssen über „Differenzen“ hinweg erkannt und realisiert werden

Etwa die rechtlichen Differenzen sind relevanter geworden und sie bergen oft noch Ungewissheiten. Bei Transaktionen auf dem Territorium desselben Nationalstaates stellt sich die Frage eher nicht, welches Recht für die Transaktionspartner wohl gelten soll und wird. Aber wenn Geschäfte international durchgeführt werden stellt sich diese Frage sofort.

Wir interessieren uns ja für die Durchsetzbarkeit von Vereinbarungen, die sich auf wechselseitige Erwartungen stützen. Was nützt im rechtlichen Sinne eine Anspruchsgrundlage oder sogar ein echter Anspruch, wenn er nicht durchsetzbar ist? In vielen international tätigen Unternehmen können die Verantwortlichen regelrecht ein Lied davon singen. Das höre ich regelmäßig von meinen Coachees! Aus ökonomischer Sicht wird es dann natürlich wichtig, andere Varianten der Absicherung und Durchsetzung zu erfinden, die ergänzend zu Rechtssystemen eine verhaltenssteuernde Wirkung bei den beteiligten Akteuren entfalten könnten. Wieder geht es um das Management von Differenzen.

Vor dem Hintergrund der Temporalisierung und der adaptiven Effizienz wird es wichtiger nicht nur die formale Organisation zu sehen, und Adressat von Management-Entscheidungen ist dann längst nicht mehr nur das eigene Unternehmen, sondern das sind auch Akteure, die noch nicht oder nicht mehr dazu gehören. Mit denen noch nicht oder nicht mehr kooperiert wird, um vermarktbare Leistungen zu produzieren. Wenn ich sage: „Noch nicht“, dann sind die Beteiligten vielleicht in einer Anbahnungsphase, die bald eine festere Form findet, z.B. über einen Arbeitsvertrag. Wenn ich sage „nicht mehr“, dann gehören Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vielleicht nicht mehr dem Unternehmen an, weil ein Projekt abgeschlossen wurde und es ineffizient erscheint, sie weiter auf der Payroll zu halten.

Dann bedarf es Wahrscheinlichkeiten, und die müssen von irgendwem benannt werden, z.B. von Führungskräften oder Algorithmen. Wird die Wahrscheinlichkeit als ausreichend hoch erkannt, dass man zukünftig entweder erstmals oder erneut gemeinsam vermarktbare Leistungen produziert, ist es ökonomisch nicht rational nichts zu tun. Vielmehr wird es in so einer Welt wichtig auf andere Weise zu kooperieren, nicht zur Produktion vermarktbarer Leistungen, aber doch zur Produktion von Identität, also einem wechselseitigen Verständnis dafür, wer die Beteiligten sind und wofür sie stehen, wie die wechselseitigen Erwartungen aussehen. Denn wenn dieses Identitätskapital bereits produziert worden ist und besteht, sind die Akteure viel schneller produktiv und in der Lage, vermarktbare Leistungen zu produzieren.

Natürlich, die Grenzen der Unternehmen sind immer schwieriger zu erkennen und zu ziehen. Auch innerhalb der Unternehmen wirken in der Regel viele Marktmechanismen, und sie werden oft gezielt eingesetzt, um endliche Ressourcen effizient zu nutzen. Aber wenn das so ist, dann ist auch aus Sicht der Unternehmensführung „alles Markt“. Wozu brauchen wir dann die Grenzziehung? Damit wir besser verstehen, was der Fall ist? Also weil die Grenzen des Unternehmens schon schwierig zu ziehen sind, sollten wir allgemein auf die Organisation ökonomischer Aktivität blicken, nicht so sehr auf die formale Seite der Organisation, die über formale Verträge beschrieben werden kann. Informale Verträge gibt es so gesehen auch mit Akteuren, die formal nicht Teil des eigenen Unternehmens sind. Sie gehören aber trotzdem dazu.

Alles ist Markt!

Das meine ich einerseits geografisch, andererseits spiele ich auch an auf die Durchlässigkeit und Instabilität der Unternehmen selbst. Der Managerial Imperativ könnte lauten: Achte darauf, dass Dein Unternehmen durchlässig wird und bleibt, damit es stets tief ein- und ausatmen kann, Wissen und obsoletes Wissen, Erfahrungen und tradierte Erfahrungen, Ressourcen. Ich meine, das öffnet den Blick für Kooperationschancen, die zum gegenseitigen Vorteil realisiert werden könnten.